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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Der Pfad

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2025

Demjenigen, der einen Weg als erstes geht, werden andere folgen. Jeder hinterlässt seinen Fußabdruck – stetig ersetzt durch den des Nächsten, bis ein Pfad seine unverkennbare Form erhält.

Auch wenn er manches Mal nur noch in der Erinnerung existiert, währt er doch ewig und vergisst niemals diejenigen, die ihn erschaffen haben.

Der Pfad, der sich durch die Hügel vor den Bergen zog, war einst breit, ausladend gewesen und wichtig, wenn nicht sogar lebensnotwendig für diejenigen, die hier gewohnt hatten. Er begann an einer schmalen Meerenge, von der aus man auf das Festland übersetzen konnte. Viehtreiber folgten ihm oft monatelang durch die ländlichen Regionen von Wales bis hin zu einer Stadt im Süden, in der sie die Tiere schließlich verkauften, um dann die beschwerliche Heimreise anzutreten. So eine Reise erforderte besonderes Geschick im Umgang mit fremdem Vieh, Mut und vor allem Durchhaltevermögen, um auch unter widrigen Wetterbedingungen die langen Fußmärsche zu bewältigen und die Tiere sicher auf dem Markt abzuliefern.

Die Frau kannte dieses Leben besser als alle anderen. Als ich sie traf, hatte sie den Viehtransport, der schließlich von der Eisenbahn übernommen worden war, schon lange aufgegeben und sich in ein kleines Haus in der Nähe der Berge zurückgezogen, wo sie Hühner und Gänse hielt und mit niemandem sonst sprach.

Der Pfad war nun, da er – abgesehen von ein paar Wochenendausflüglern oder einzelnen Wanderern, die den alten Wegen folgen wollten – nicht mehr genutzt wurde, kaum noch erkennbar. Nichtsdestotrotz bewahrte er all die Erinnerungen aus vergangenen Zeiten, und die alte Viehtreiberin stellte sicher, dass das nicht verloren ging.

Für den Sommer hatte ich mir ein kleines Häuschen gemietet, um dort meinen nächsten Roman zu schreiben. Jeden Tag setzte ich mich an den Schreibtisch neben dem Fenster, durch das ich die Berge, ihre Ausläufer und den Pfad sehen konnte, der die Konturen der Hügel nachzuzeichnen schien. Mit einem Becher Tee und einem Apfel las und schrieb ich, bis es mir die Augen nicht mehr erlaubten – dann ging ich meist spazieren.

Jeden Tag sah ich die Viehtreiberin vorbeigehen, schenkte ihr jedoch wenig Beachtung. Als sie schließlich eines Morgens an meinem Fenster kurz Halt machte, um sich den Hut zu richten, hatte ich erstmals Gelegenheit, sie genauer zu beobachten. Sie war nicht groß, aber sie hielt sich sehr gerade und wirkte vornehm und irgendwie deplatziert in dieser rauen Umgebung. Ihr Alter konnte ich auf die Distanz schlecht schätzen; die stark gebräunte Haut auf Gesicht und Händen verbarg die Linien, die das Leben eingezeichnet hatte.

Der Sommer verging, ich hatte meinen Roman geschrieben und nun endlich auch die Zeit, meine Umgebung näher zu erkunden. So gelangte ich auch immer wieder auf den Pfad und traf sie dort eines Tages, als sie gerade auf dem Heimweg war. „Bore da“ (Guten Morgen) grüßte ich sie, woraufhin sie nickte. Mehr Walisisch sprach ich nicht, aber das machte nichts. Wunderschöne tiefgrüne Augen musterten mich und lächelten mich im Vorbeigehen freundlich an. Mit ihrem Haselnussstab winkte sie mir noch zu, die andere Hand verbarg einen glatten Stein, der genau in ihre Handfläche passte.

Der Pfad brachte mich schließlich an ein hölzernes Gatter, wo die Hecken ein dichtes, wildes Gestrüpp gebildet hatten. Hier schlängelte er sich durch, wie in einem Labyrinth, und ich stellte mir vor, wie sich im Lauf der Jahrhunderte unzählige Viehtreiber hier wohl durchgekämpft hatten. Als ich das Gatter öffnete, fiel mir auf dem Pfosten ein alter verbogener Nagel auf. Daran hing – beinahe versteckt durch das Brombeergestrüpp – eine kleine Sichel. Wie der Nagel war sie alt, aber nicht verrostet, sondern sauber, glatt und sehr scharf, und als ich sie an meine Nase hielt, roch ich den Geruch von frischer Butter.

Jeden Tag erschloss ich mir diesen Pfad ein Stück weiter, bis ich schließlich zu einem anderen Gatter gelangte, das zu einem mit Heidekraut bewachsenen Bergplateau führte. Land, das scheinbar niemandem gehörte – oder eben doch jedem, der es wagte, es zu erwandern. Auch auf diesem Pfosten entdeckte ich einen verbogenen gebutterten Nagel.

Viele Jahre später kehrte ich zurück, um hier zu leben. Mein Roman hatte mir den Kauf des Häuschens ermöglicht, in dem ich ihn geschrieben hatte. Die Viehtreiberin war ein paar Jahre zuvor gestorben, und auf dem Friedhof fand ich heraus, dass ihr Name Aderyn gewesen war – das walisische Wort für Vogel.

Den Pfad gehe ich so oft ich kann und trage ihren Stein, den ich einst unter dem Gatter gefunden hatte, immer bei mir. Die Sichel ist zwar nicht mehr da, aber der Pfad bleibt frei – weil ich ihn begehe.