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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Die Laterne

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2022

Ihm war es zu dunkel. Er wollte mehr Licht, besseres Licht.

Nur wenige in seinem Dorf besaßen eine Lichtquelle – man sah sie abends dort gewöhnlich dicht gedrängt zusammensitzen und hörte ihr ängstliches Geflüster bis weit hinein in den Morgen.

Andere krochen orientierungslos durch die Nacht, fast wie Krabben, die fernab ihrer Höhle von der Dunkelheit überrascht worden waren. Dass die Dorfbewohner ihr Schicksal einfach so hinnahmen, befremdete ihn. Er fühlte sich ihnen überlegen und dachte sich, dass es ihm besser ergehen sollte.

Und so hörte er eines Tages von einem Mann, der weit entfernt in einem Tal leben und Laternen besitzen sollte, die die Nacht überdauern konnten. Deren Licht trotzte angeblich sogar dem Wind und den Stürmen, die es an diesem Ort häufiger gab.

Der Mann, der mehr Licht suchte, machte sich auf den Weg.

Dort angekommen, wurde er in einen kleinen fensterlosen Raum geführt, der sich ausnehmend gut für die Präsentation der vielen unterschiedlichen Laternen eignete, die zur Auswahl standen. Hier fanden sich alle Größen und Formen wieder – und der Verkäufer pries ihre Vorzüge an, erwähnte aber auch ihre Schwachstellen.
Eine schien beispielsweise grell und tauchte den Raum in flackernde, unwirkliche Farben – nach kurzer Zeit stand der Besucher allerdings schon wieder im Dunkeln. Eine andere brannte zwar beständig, gab aber solch ein schwaches Licht ab, dass man sie unmittelbar nach ihrem Erlöschen bereits vergessen hatte.
Viele der Lampen rochen sonderbar, wenn sie brannten – manche süßlich, andere ranzig, wieder andere flackerten verzweifelt oder schienen sich nicht recht entscheiden zu können, was für ein Licht sie abgeben mochten.
Eine benötigte so viel Öl, dass der Verkäufer sie nur von Zeit zu Zeit anzünden konnte. Eine andere, kleine hübsche Lampe brannte sehr hell, war aber so laut, dass ihnen davon die Ohren wehtaten. Einige waren offensichtlich auch schon Opfer ihrer eigenen Strahlkraft geworden, denn ihnen fehlten bereits ganze Stücke, und sie fristeten ihr nun nutzloses Dasein unbeobachtet auf diversen Regalen.

Über den Wert der zuletzt vorgeführten Laterne schien sich der Verkäufer vollends im Klaren zu sein; ob sie für den Besucher von Nutzen sein würde, blieb hingegen unklar. Diese erhellte den Raum mit einem stetig schönen Licht bis in die letzten Winkel – nichts blieb der Fantasie überlassen. So perfekt war dieses Licht, dass sich all die anderen Laternen, ihre Materialien und Brenntechniken nun klar und deutlich betrachten ließen. Und so kraftvoll und überzeugend war es, dass es alles andere buchstäblich in den Schatten stellte.

„Diese Laterne”, sagte der Verkäufer, „wird so lange leuchten wie sie will.“

„Und welchen Brennstoff benötige ich dazu?“

„Keinen“, war die Antwort.

Die Lampe eng an die Brust gedrückt, machte sich der Mann sehr vorsichtig auf den Heimweg.

Zunächst war das Licht so hell, dass es ihn fast blendete, aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran. Er war sehr zufrieden mit seiner Wahl, bis er bemerkte, dass es auch auf die Straße schien und die Aufmerksamkeit der anderen Dorfbewohner erregte. Neugierig versammelten sich diese bereits vor seinem Fenster.
Er war sich fast sicher, dass sie in ihrer Einfältigkeit nicht begreifen würden, dass dieses Licht, das alles erhellte, aus dem Nichts entstand – und wenn er ehrlich zu sich selbst war, so traf das auch auf ihn zu.
Besser schien es also zu sein, das Licht vor ihnen zu verstecken. Er zog einen Vorhang vor das Fenster und schloss es gleich ganz, um sicherzugehen.
Bald darauf gingen die Dorfbewohner wieder ihren Angelegenheiten nach und ließen ihn zufrieden.

Die Laterne brannte hell, ihr Licht blieb immer gleich, Tag wie Nacht, nichts entkam ihrem Schein.

Durch ihre gewaltige Energie breitete sich hinter dem Vorhang und dem geschlossenen Fenster bald eine Hitze aus, die das Atmen erschwerte. Und durch das helle Strahlen waren seine Augen nicht mehr in der Lage, selbst am Tag Dinge außerhalb seines Zimmers klar wahrzunehmen. Zunächst sah er seine Nachbarn nicht mehr, dann erkannte er auch die anderen Häuser oder die Straße nicht wieder.

Als er eines Abends so nah bei der Laterne saß, dass sie ihm beinahe die Haut verbrannte, fühlte er etwas Heißes, Schmieriges auf seiner Hand. Nach einem weiteren Tropfen schaute er auf und sah, dass die Zimmerdecke in einen schwarzen fettigen und rußigen Film getaucht war, der sich auch auf dem Boden, seinen Möbeln und seinem Bett verteilen wollte.
Ein weiterer Tropfen fiel, ohne ihn zu verletzen, direkt in sein Auge. Jetzt begriff er, riss den Vorhang vom Fenster und stieß es auf.

Sofort ergoss sich das Licht auf die Straße und hinein in das Dorf. Durch die Kraft dieser Laterne, die nur aus sich selbst heraus strahlte, gehörten beschwerliche Zeiten und kümmerliche Lichtquellen augenblicklich der Vergangenheit an.

Als er darauf angesprochen wurde, hatte er keine Erklärung – weil es keine gab.