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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Eine wahre Geschichte

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2023

Der Tag versprach mild und trocken zu werden. Die Wolken, die sich in der mondlosen Nacht am Himmel aufgetürmt hatten, waren weitergezogen und hatten den Wind mit sich genommen.

Auf das laute Vogelgezwitscher bei Tagesanbruch folgte eine geschäftige Ruhe, in der sich jeder Vogel in seinem Revier auf seine Weise der Nahrungssuche widmete. So hielt die Amsel auf dem Dach Ausschau nach Futter, und in der Wiese stiegen die Lerchen spielerisch auf und ab. Die Geräusche, die sie dabei machten, entlockten ihm ein Lächeln.

Der Dichter schrieb. Leicht, aber beständig bahnten sich die Wörter den Weg auf das Papier, das vor ihm lag, fast so wie das Plätschern des Regens auf den Blättern vor seinem offenen Fenster am Nachmittag zuvor. An diesem Tag hatte er nicht wie gewohnt im Garten arbeiten können und sich stattdessen seinen Büchern gewidmet, war aber über dem monotonen Tropfen des Regens schließlich eingeschlafen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Gedanken, die ihm beim Aufwachen in den Sinn gekommen waren.

Plötzlich war es mit der Ruhe vorbei. Er schaute aus dem Fenster und wusste gleich, wem die hektischen und besorgten Rufe aus dem Dickicht gegenüber galten. Ein Nachtigall-Paar hatte hier sein Nest gebaut und zog seine Jungen auf. Obwohl er nichts sehen konnte, war ihm klar, was ihre Rufe bedeuteten. Ganz langsam erhob er sich, streckte sich ein wenig und ging barfuß nach draußen.
Waren die Rufe bereits recht deutlich durch sein Fenster zu hören gewesen, wurden sie nun schrill und durchdringend, je weiter er sich ihnen näherte. Er wusste, wo sich das Nest befand, aber das stand jetzt nicht im Vordergrund, denn die Vogeleltern würden in jedem Fall versuchen, den Eindringling auf Abstand zu halten.
Er hielt sich die Hand vor Augen, damit die Sonne ihn nicht blendete und suchte die höheren Zweige der Pflaumenbäume ab, die aus der Hecke herausragten. Aufgrund ihres Wildwuchses war das ein eher schwieriges Unterfangen, und seine Augen gewöhnten sich erst langsam an die Dunkelheit, die durch das Dickicht entstanden war. Als er sich schließlich dem Baum näherte, flog der Eindringling eher unbeholfen auf – und gab sich ihm durch das weiße Gefieder als Elster zu erkennen.

Dass ihr Vorhaben vereitelt wurde, kommentierte sie mit einem ärgerlichen Gackern und bahnte sich zunächst unter großem Getöse einen Weg aus den Zweigen hinauf in den blauen Himmel. Von einem Pfosten in der Nähe beobachtete sie die Lage, und so ruderte der Dichter wild mit seinen Armen und schrie ihr nach, bis sie schließlich verärgert, so schien es ihm zumindest, aufgeben musste.

Jetzt zog er den Zorn der Nachtigallen auf sich und sah sie als Silhouetten im Tageslicht im blattlosen Gestrüpp in der Nähe ihres Nestes aufgeregt herumflattern. Er riskierte einen verstohlenen, hoffnungsvollen aber letztlich sinnlosen Blick in die Dunkelheit, kicherte wie ein Kind und trat zurück und weg von ihnen. Ihre Unruhe legte sich langsam und als er wieder an seinem Schreibtisch saß, waren sie ganz still geworden, sicherlich wieder damit beschäftigt, Futter zu finden.

Das Gedicht war fast fertig, zumindest erschienen ihm Reim und Inhalt sinnvoll und es klang gut. Er war zufrieden mit seiner Arbeit an diesem Morgen und hatte sich eine Pause redlich verdient. Eine Tasse Tee mit frischgepflückten Kräutern aus dem Garten erschien ihm eine willkommene Abwechslung zu sein.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, hörte eine Lerche aufsteigen und schaute zur Hecke. Kein Laut war zu hören. Er lächelte und drehte sich zur offenen Tür, um zu sehen, wie sich das Wetter entwickeln würde. Er sah einen kleinen, zimtfarbenen Vogel auf seiner Türschwelle, der mit seinem wippenden Schwanz zu ihm aufschaute. Sein Schnabel war bereits mit Käfern und Raupen gefüllt, und er pickte sich noch einen letzten Käfer von den Stufen. Trotzdem flog er nicht sofort davon, sondern wippte noch ein paar Mal auf und ab und behielt den Dichter dabei im Auge. Mit einem sanften Piepsen, das ihm wie ein Dank erschien, flog die Nachtigall davon. Er lachte und freute sich wie ein Kind.

An diesem Tag änderte sich das Wetter nicht mehr, aber die Elster kam immer wieder zurück und hielt den Dichter auf Trab, bis die Sonne untergegangen war.