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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Jeder so gut wie er kann

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 01/2024

Er war ein unscheinbarer Mann. Eher klein und schmal gewachsen, mit einem einfachen und gewöhnlichen Gesicht und einem Körper, der bis auf einen altersgebeugten Rücken keine Besonderheiten aufwies.

Die Art von Person also, der man, wenn man ihr auf der Straße begegnete, keine weitere Beachtung schenkte.

Das einzige bemerkenswerte an ihm, so schien es zumindest, war, dass alles, was er tat, schiefging. Schon als Kind machte er seinen Eltern Sorgen. Schickte man ihn zum Melken der Ziege, hatte er den Eimer anschließend sicher fallengelassen – wenn die Ziege überhaupt Milch gab. Selbst einfachste Aufgaben wie das Ausmisten des Stalls führten zu zerbrochenen Besen oder Schaufeln und entlaufenen Tieren, die keiner je wiedersah.
Eimer waren unablässig zu ersetzen, weil sich ihre Vorgänger in den Brunnen verabschiedet hatten – ähnlich verhielt es sich mit den Zugseilen. Unter seinen Händen brannten Töpfe durch, kochte Wasser über, brachen Stühle entzwei und wurde die süßeste Marmelade beim Einkochen sauer.

Die Eltern verzweifelten an ihrem „Problemkind” und gaben ihn schließlich in die Obhut eines Handlungsreisenden, der auf der Suche nach einem Auszubildenden an ihrem Dorf vorbeigekommen war. Auch dieses Kapitel endete ungut, weil die unzähligen Schwierigkeiten, die seine Anwesenheit dem Handlungsreisenden beschert hatten, schnell zu dessen Ruin führten. Entsprechend setzte der Meister eines Morgens hoch in den Bergen nach nur wenigen Monaten seine Reise klammheimlich ohne seinen Auszubildenden fort.

In den folgenden Jahren stolperte der junge Mann von einer unglücklichen Situation in die nächste, einem Fischerboot gleich, das vom Sturm erfasst wird. Selbst auf solch einem Boot hatte er es einmal als Koch versucht, aber auch diese Besatzung hatte ihn nach kurzer Zeit an einem Hafen im Osten ausgesetzt, nachdem sie einfach nichts mehr gefangen hatten.

Trotzdem verlor dieser unerschrockene Außenseiter kaum die Hoffnung und Selbstmitleid war ihm fern. Ihm war zwar klar, dass das Unglück, das ihm und anderen in seiner Gegenwart geschah, von ihm ausging, er dachte aber weder gut noch schlecht von sich. Keiner hatte Schuld daran, dass er so war wie er war, und er verdiente es auch nicht anders. Es war, wie es eben war.

So beschloss er nach einiger Zeit, dass es wohl besser wäre, einen weiten Bogen um andere Menschen zu machen, um sie von weiterem Unglück zu bewahren. Zurück aus dem Osten, wollte er sich über das Schicksal seiner Eltern erkundigen und kam auch an einem hohen Berg vorbei, an dessen Seite sich ein Dorf schmiegte.
Er konnte sich das Unheil, das er über die Dorfbewohner bringen würde, förmlich vorstellen und beschloss, hier keinen Halt einzulegen. Am Fuß des Wegs hoch zum Dorf fand er jedoch eine Frau vor, die sich wehklagend auf dem Boden krümmte und ihre Hände in Verzweiflung rang. Unter Tränen erklärte sie ihm, dass das Dorf seit Monaten von einer Dürre heimgesucht wurde und die Tiere und die Ältesten sehr darunter litten.

Kurzum machte er sich auf den Weg in das Dorf und erblickte in den engen Gassen das Leid, das die Frau beschrieben hatte. Hier waren die Quellen versiegt und die Tröge leer.
Auf einem Platz, auf dem sich viele Dorfbewohner versammelt hatten, zeigte sich das ganze Ausmaß: Der Dorfälteste saß inmitten der anderen und hielt die letzte Schüssel mit klarem Wasser in seinen Händen.

Zielstrebig bahnte sich der Reisende seinen Weg zum Dorfältesten und blickte auf das Wasser in der Schüssel. Ohne ein weiteres Wort zog er sein einziges, stark verschmutztes Gewand aus und begann, nackt wie er war, es in der Schüssel zu waschen. Augenblicklich wurde es still – selbst dem Ältesten blieb vor Schreck der Mund offenstehen. Niemand rührte sich.

Nachdem das Gewand gewaschen war, wrang er es aus und bat höflich darum, gehen zu dürfen. Er überquerte den Platz and hängte sein Gewand zum Trocknen über eine niedrige Mauer. Dann setzte er sich mit dem Rücken zur Wand auf die Erde, schloss die Augen und wartete.

Während die Dorfbewohner den augenscheinlich schlafenden Fremden noch mit einer Mischung aus Wut und Erstaunen beobachteten, zogen die ersten Regenwolken auf.
So endete seine Reise. Das Haus, das ihm der Dorfälteste anbot, war ihm genug – ganz so wie die Körbe voller Lebensmittel, die er von nun an jeden Tag vor seiner Tür vorfand.