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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Viele Wege führen aus der Einsamkeit

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 01/2020

Ein Weg ist so lang oder so kurz, wie man ihn sich denkt.

Auf manchen Wegen lässt es sich darum einfacher reisen als auf anderen. In guter Gesellschaft etwa scheinen Wege geradezu kürzer zu werden – eine geteilte Reise, so sagen manche deshalb auch, wird zu einer halben Reise.

Eines sonnigen Morgens, irgendwo zwischen einer Wüste und den Bergen, trafen sich zwei Wanderer an einer staubigen Kreuzung. Nachdem sie festgestellt hatten, dass sie beide unterwegs zu ihrer gemeinsamen Heimatstadt waren, beschlossen sie, den verbleibenden Weg zusammen zurückzulegen.

Während sie also die einsame Straße entlanggingen, wurde bald klar, dass sie nicht nur dasselbe Ziel hatten, sondern auch dieselben Einstellungen und Denkweisen teilten.

Als sie einige Tage später die Stadt erreicht hatten, waren sie bereits so enge Freunde geworden, dass es ihnen richtiggehend schwerfiel, sich voneinander zu trennen. Gerne hätten sie ihre Reise – oder zumindest ihre angeregten Diskussionen – fortgeführt. Und so beschlossen sie, sich fortan jeden Abend in einer Teestube zu treffen, um dort über die Themen zu sprechen, die ihnen beiden am Herzen lagen.

Nach ihrer Ankunft in der Stadt begab sich jeder zunächst zu seinem eigenen Haus, beide begannen aber, unabhängig voneinander, darüber nachzudenken, warum ihnen die gemeinsam verbrachte Zeit so viel bedeutet hatte. Da beide gerne debattierten, wurde diese Frage auch schnell zum Gegenstand ihrer Diskussionen – die Frage nach der Bedeutsamkeit ihrer Freundschaft.

Während sich jeder von ihnen darüber bewusst war, welchen Wert Freundschaft für sie hatte, konnte doch keiner von beiden sagen, was diese eigentlich genau ausmachte.

Es war ihnen zwar möglich, einige Dichter und Denker zu zitieren, die den Wert der Freundschaft mit dem jahrelangen Reifeprozess eines guten Weines verglichen oder einen Freund gar wie eine wärmende Decke in einer kalten Nacht beschrieben hatten.

Solche Vergleiche bekräftigten allerdings nur ihre Ahnung, dass es sich hier um etwas von großer Bedeutsamkeit handeln musste. Das tiefere Geheimnis aber, das einer Freundschaft offensichtlich zugrundelag, blieb ihnen weiterhin verborgen und sie beschlossen, es fortan gemeinsam zu ergründen.

Die folgenden Tage verbrachten sie damit, auf langen Spaziergängen durch die Gärten der Stadt wichtige und weniger wichtige Themen zu diskutieren. Musste einer von ihnen beispielsweise in die Bibliothek, leistete ihm der andere dort gerne Gesellschaft. Sie hatten die gleichen Interessen und saßen manches Mal gar nebeneinander, um in ein und demselben Buch zu lesen.

Es dauerte nicht lange, und sie verbrachten auch die Abende miteinander. Zusammen bereiteten sie ihre Mahlzeiten zu, aßen gemeinsam und sprachen dann über die Ereignisse der vergangenen und ihre Pläne für die kommenden Tage. Schließlich übernachteten sie auch gemeinsam im Haus des einen oder des anderen, wo einer von ihnen im Bett schlief und der andere es sich stets auf dem Boden bequem machte.

In dieser ganzen Zeit suchten sie nach dem Geheimnis der Freundschaft.

Zusammen unternahmen sie weite Reisen und erkundeten fremde Orte, die sie alleine nie besucht hätten. Sie sahen und lernten viele neue Dinge kennen, hatten jedoch nie das Gefühl, das Geheimnis gefunden zu haben.

Mit den Jahren waren sie alt und müde geworden.

Eines sonnigen Morgens saßen die zwei Reisenden im Garten und diskutierten erneut über die Freundschaft.

Ruhig sprach der eine, während der andere ihm friedlich zuhörte.

„Ich frage mich, wann genau wir das Geheimnis ergründet haben.”

„Ich weiß es nicht mehr“, antworte der andere.