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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Unter Strom Funktionelle Elektrostimulation (FES): Viele Vor-, aber auch Nachteile

Simone Herrmann, Blickpunkt-Ausgabe 01/2021

Funktionelle Elektrostimulation (FES) ist ein Hilfsmittel, das die Gehfähigkeit verbessern und somit den Alltag deutlich erleichtern kann. Hier möchte ich euch von meinen Erfahrungen berichten.

Kämpfen kann sich lohnen!

Im Jahr 2013 wurde mir mit 35 Jahren mitgeteilt, dass ich an Multipler Sklerose (PPMS) erkrankt bin. Da ich wie viele Betroffene schon lange vorher Symptome hatte, war die Diagnose für mich beinahe schon eine Erleichterung.
In den darauffolgenden Jahren hatte ich es mir gemütlich eingerichtet und fand mich damit ab, körperlich nicht mehr besonders leistungsfähig zu sein. Meine Beine waren extrem schnell erschöpft, und Spastiken stellten sich ein. Mein Auto war mein liebstes Hilfsmittel geworden – bis ich meine physiotherapeutische Praxis wechselte.

Meine neue Physiotherapeutin wendete nicht nur passive Maßnahmen an, sondern forderte mich körperlich stark. Das war ganz anders als meine bisherigen Erfahrungen – und motivierte mich total! Plötzlich bekam ich wieder Spaß an Bewegung. Meine Gehstrecke betrug bis dato etwa 100 Meter. Nach langem und oft sehr mühsamem Üben verlängerte ich diese Distanz unter ihrer Anleitung mit vielen Gehpausen auf 1,2 Kilometer. Im Sommer 2018 verbesserte ich so meine Ausdauer geduldig Stück für Stück. Am Anfang mit Walking-Stöcken, später frei, und irgendwann schaffte ich die Strecke sogar ohne Pause. Im Gegensatz zu meiner vorherigen Gehstrecke könnte man also fast von einem Marathon sprechen.
Ich war glücklich darüber, dass mein Körper diese Fähigkeit wieder aufbauen konnte. Denn manchmal kämpft man gegen Windmühlen, und viele Betroffene erzielen leider nur deutlich kleinere Erfolge.

Dann der Dämpfer

Ende 2019 dann der Rückschlag! Da ich unter der PPMS leide, ging dem Ganzen kein Schub voraus. Trotzdem verschlechterte sich mein Gehen innerhalb kürzester Zeit dramatisch. Mein linkes Bein machte bei fast jedem Schritt einen halbkreisförmigen „Schwung“ nach außen. Mein Gleichgewicht funktionierte wieder schlecht, und aus für mich unerklärlichen Gründen blieb ich oftmals mit der Fußspitze am Boden hängen. Die Muskeln meines Körpers, insbesondere des Nackens, verkrampften sich stark. Dies war äußerst unangenehm und verursachte zudem Rücken- und Kopfschmerzen. Es hatte wirklich nichts mehr mit Laufen zu tun, sondern eher mit „sich durch die Gegend wuchten“. Fortbewegen auf den eigenen Beinen wurde zur Tortur.
Obwohl mich meine Physiotherapeutin immer wieder ermutigte, weiter zu üben, konnte ich mich nur selten dazu durchringen. Es war einfach zu mühsam und frustrierend. Ich schaffte gerade einmal 50 Meter mit Stöcken, bis all diese Beschwerden auftraten. Da es sich nicht um einen Schub handelte, bekam ich von meinem Neurologen keine Kortison-Stoßtherapie. Stattdessen empfahl er mir, bei meiner Krankenkasse ein Gerät zur Unterstützung meines linken Fußhebers zu beantragen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass all diese Symptome nur durch die Fußheberschwäche entstehen sollten, leitete aber trotzdem alles in die Wege, um solch ein Gerät zu bekommen.

Funktionelle Elektrostimulation – die Lösung!

Etwa ein halbes Jahr später war ich im Oktober 2020 stolze Besitzerin eines Bioness L 300 Go, ein Gerät zur Stimulation des Peroneus-Nervs. In diesem Fall sogar ohne Fußpad, welches wohl bei älteren Systemen in den Schuh gelegt werden muss. Die Stimulation erfolgt einzig durch eine Elektrode unterhalb des Knies, das Gerät kann also auch barfuß genutzt werden.
Nach einigen Monaten Training hat sich meine Gehstrecke mittlerweile schon wieder auf 1000 Meter ausgedehnt. Es war natürlich ein ganzes Stück Arbeit, und tägliches Üben ist unerlässlich. Aber ich bin sehr froh darüber, dass die Funktion meines linken Fußhebers mithilfe des Geräts wieder hergestellt werden kann. Der Nerv „spielt“ gut mit und lässt sich sehr leicht stimulieren. Dies ist leider nicht in jedem Fall gegeben.

Wirklich hilfreich!

Wie aufrecht und stabil meine Haltung jetzt ist, wie deutlich sich mein Gleichgewicht verbessert hat und vor allem, wie viel entspannter mein ganzer Körper nun ist! Manchmal sieht man mir nicht im Geringsten an, dass ich eigentlich gehbehindert bin.
Natürlich gibt es nach wie vor schlechte Tage, z. B. wenn die Fatigue sehr stark ist. Wie bei den meisten MS-Betroffenen spielt die jeweilige Tagesform auch bei mir eine große Rolle. Dann reicht auch diese Unterstützung nicht aus.

Ansonsten bin ich aber absolut zufrieden mit dem Gerät. Der Impuls, bzw. der leichte Stromreiz, den der Nerv bekommt, ist spürbar und am Anfang ein bisschen unangenehm, aber man gewöhnt sich schnell daran.
In den ersten Wochen kam auch einige Male ein Techniker des Sanitätshauses vorbei, um etwa die Stromintensität oder Schrittlänge an meine Bedürfnisse anzupassen. Für die jeweilige Tagesform kann man die Stärke des Impulses auch selbst noch ein wenig anpassen.

Das Gerät trage ich hauptsächlich, wenn ich das Haus verlasse. Gerade beim Einkaufen ist es mir eine große Hilfe und ich kann, dank verbessertem Gleichgewicht, auch wieder einen Einkaufskorb tragen. Beim Autofahren nutze ich kurz den Standby-Modus, d. h., ich muss das Gerät nicht ablegen, wenn ich weiß, dass ich seine Unterstützung in absehbarer Zeit wieder brauchen werde.
Zu Hause nutze ich das Gerät nur im Trainingsmodus. In regelmäßigen Abständen von ca. fünf Sekunden wird dabei der Fuß angehoben und so die Funktion des Fußhebers trainiert. Ich bin gespannt, ob ich dadurch später vielleicht zeitweise auf die Unterstützung des Gerätes auch unterwegs verzichten kann.

Es gibt auch Nachteile

Im Winter ist es gerade jetzt, im Zeitalter der Skinny-Jeans, nicht ganz einfach, eine Hose zu finden, unter die das Gerät passt. Denn es ist nicht gerade klein und benötigt unter der Kleidung schon einigen Platz. Es funktioniert allerdings auch durch eine Strumpfhose. Frauen haben in diesem Punkt einen Vorteil, wenn sie einen Rock tragen. Im Sommer ist es in dieser Hinsicht natürlich gar kein Problem, außer man stört sich daran, dass das Gerät dann sichtbar ist. Mir ist das egal, da der Nutzen derart groß für mich ist und sich meine Lebensqualität dadurch immens verbessert hat. Zur warmen Jahreszeit könnte es allerdings unter der Manschette etwas ungemütlich werden. Da ich mit dem Gerät noch keine wirklich heißen Temperaturen erlebt habe, kann ich dazu noch nichts sagen, bin aber auch gespannt, wie sich sommerliche Temperaturen oder Schweiß auf die Leitfähigkeit der Elektrode auswirken.

Fazit

Trotz der beschriebenen Nachteile kann ich absolut empfehlen, so ein Gerät bei gegebener Indikation auszuprobieren. Nicht bei jedem wird es eine derart große Verbesserung bringen, ein Versuch ist es jedoch allemal wert! Wir sollten alles in Anspruch nehmen, was uns das Leben erleichtert. Und oftmals übernehmen auch die gesetzlichen Kassen die Kosten für diese Hilfsmittel schnell und unkompliziert – zumindest durfte ich in diesem Fall eine solche Erfahrung machen. Die Bewilligung erfolgte, mithilfe des Sanitätshauses, problemlos.

Herzliche Grüße
Simone Herrmann