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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

„Hilfe, ich vergesse so viel!“: Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose

Von Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 02/2019

Das Gedächtnis ist uns ein besonders heiliges Gut. Fragt man junge Menschen, wovor sie am meisten Angst haben, so wird sehr häufig der Gedächtnisverlust genannt. Für älter werdende Menschen gilt das gleichermaßen: Demenz, Erinnerungslücken – ein Horrorszenario! Es wird schnell ein Szenario der besonderen Art, wenn man an MS erkrankt ist, denn hier ist die statistische Häufigkeit, dass es zu Demenz oder kognitiven Leistungsstörungen kommt, um ein Vielfaches höher als bei gesunden Menschen. Wenn wir uns klarmachen, was genau alles zur sogenannten Kognition gehört, dann wird deutlich, wie umfassend dieses Themengebiet ist und vor allem wie weitgreifend die Auswirkungen sein können.

Was sind kognitive Störungen?

Zunächst einmal ist Kognition ein uneinheitlich verwendeter Begriff, mit dem auf Prozesse des Wahrnehmens und Erkennens Bezug genommen wird (lateinisch: cognoscere). Störungen in diesen Prozessen betreffen vor allem Fähigkeiten im Bereich Speicherung und Verarbeitung von Informationen, komplexe Aufmerksamkeit sowie dem Planen und Handeln.

Kognitive Störungen bei MS – kurz gefasst

  •  Rund 40 bis 70 Prozent der MS-ler erfahren kognitive Leistungsstörungen.
  • Betroffene „Hirnleistungsbereiche“ können sein: Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisstörungen, Störungen der kognitiven Flexibilität.
  • Es besteht ein Zusammenhang zwischen der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Ausmaß der Zerstörung von Nervenzellen im Gehirn.
  • Die geistigen Leistungsstörungen hängen unter anderem auch davon ab, welche Hirnareale betroffen sind. Vor allem Schädigungen (Läsionen) im Großhirn sind für die kognitiven Beeinträchtigungen verantwortlich.
  • Art und Ausmaß der kognitiven Störungen sind unabhängig vom Behinderungsgrad.
  • Kognitive Störungen, die während eines Schubes auftreten oder durch andere Faktoren ausgelöst werden (zum Beispiel Depression, ausgeprägte Fatigue, Stress, Medikamente) können sich nach Abklingen des Schubes wieder komplett zurückbilden.

Welche kognitiven Störungen können bei MS auftreten?

Die MS zeigt uns eventuell schon sehr früh, dass auch das Gedächtnis betroffen sein kann, wenn entsprechende Entzündungsherde an den dafür übereinstimmenden Stellen im Gehirn sitzen. MS-ler sind dabei individuell sehr unterschiedlich von kognitiven Leistungsstörungen betroffen. Die Probleme reichen von Störungen des Gedächtnisses oder der komplexen Aufmerksamkeit, dem Handeln und Tun, der Eigenwahrnehmung bis hin zu Schwierigkeiten beim Sprechen. Vor allem auch von Störungen der komplexen Aufmerksamkeit (sogenanntes Multi-Tasking) sind viele betroffen. Unwichtiges auszublenden fällt daher oft schwer, als ob man sich in einem ständigen Alarmmodus befinden würde.

Auswirkungen der kognitiven Störungen

Da das Gedächtnis die Fähigkeit besitzt, Informationen zu speichern und Erlerntes wiederzugeben, kann es bei Störungen erhebliche Probleme geben. Denn ist das Gedächtnis beeinträchtigt, verlängert sich die Zeitspanne, um sich zum Beispiel die Einkaufsliste einzuprägen, sich eine Telefonnummer zu merken oder auch beispielsweise Vokabeln so zu lernen, dass sie später wieder abrufbar sind. Die einfache Aufmerksamkeit, die jede einzelne Aktion für sich erfordert, ist dabei normalerweise nicht eingeschränkt, aber alle Tätigkeiten im Alltag erfordern nun einer ausgeprägten Aufmerksamkeit und Konzentration (wie zum Beispiel Fernsehen, Kochen, Lesen, Orientierung oder Kommunikation), und das verstärkt sich weiter, wenn Tätigkeiten parallel nebeneinander her laufen.
Denn dabei kommt es auf die Verarbeitung von vielen Informationen gleichzeitig an, wie beispielsweise ein Gespräch zu führen und gleichzeitig Gesprächsnotizen anzufertigen oder zu bügeln und dabei eine Fernsehsendung zu verfolgen. Ist diese Aufmerksamkeit gestört, kommt es unweigerlich zu Schwierigkeiten. Auch das Planen und Handeln sind Fähigkeiten, die durch kognitive Leistungsstörungen beeinträchtigt werden können.

Oft fällt es Außenstehenden auf, dass man „vergesslicher“ wird, oder man spürt es selbst. Eine harte Erkenntnis. Mein Lieblingsbeispiel ist „mein“ Anschalten der Waschmaschine: Wenn ich daran denke (!), stelle ich mir schon einen Wäschekorb in den Flur, der mich erinnern soll, dass ich eine Waschmaschine angestellt habe (sie befindet sich im Keller). Mit noch mehr Glück schreibe ich mir dazu noch einen Zettel, den ich so deponiere, dass ich ihn auch sehe. Aber trotz all dieser Maßnahmen ist es mir schon sehr oft passiert, dass ich die Maschine völlig vergessen habe und mir mein Mann dann abends sagte: „Übrigens, im Keller ist die Waschmaschine noch an!“, und mittlerweile grinsen wir schon beide, da wir das Spiel kennen. Das ist aber ein harmloses Beispiel.
Schwerwiegender ist, dass ich beispielsweise beim Kochen war und Reis aufgesetzt hatte. In der Zwischenzeit habe ich Salat vorbereitet und wunderte mich, warum es in der Küche (in der ich mich ja befand) plötzlich so stark roch. Es ist mir fast peinlich, das so zu sagen, aber obwohl ich in der Nähe des Herdes stand, ist mir der kochende Reis nicht eingefallen. Irgendwann habe ich der dampfenden Quelle nachgespürt und habe dann natürlich den mittlerweile schon angebratenen Reis entdeckt. Ich weiß noch, welche Gefühle das in mir ausgelöst hat: Ich stehe dabei, nebenan und bekomme nichts mit und weiß mir kaum zu helfen… – Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut, Scham, Verzweiflung! Für mich war dies ein Drama. Da ist es schon fast lächerlich, dass ich neulich, als ich einkaufen fuhr, zwar alle Fenster im Haus geschlossen hatte, aber die Terrassentür offenstehen ließ, worüber sich mein Hund sicher sehr gefreut hat. Ich bemerkte dies erst, als ich nach Hause kam!
Natürlich hat es mich deshalb auch besonders interessiert, diesen kognitiven Störungen auf den Grund zu gehen.

Die Diagnosestellung

Es gibt verschiedene neuropsychologische Testverfahren, mit denen man die kognitive Leistungsfähigkeit beurteilen kann. Eines der größten Probleme für die Diagnose ist, dass der Einfluss von MS auf die Kognition im Alltag zunächst ja oft übersehen wird. Denn dieser Prozess verläuft meistens sehr langsam und am Anfang oft unbemerkt – er schleicht sich sozusagen ein. Manche Betroffene denken, dass ihnen irgendetwas „Schusseliges“ passiert, weil sie „einfach nur abgelenkt“ waren und nehmen somit dieses Problem nicht als Störung wahr. Auch eine gewisse Vergesslichkeit oder Zerstreutheit kann man jahrelang mit sich „herumschleppen“, ohne sich bewusst zu werden, dass es eine beginnende kognitive Leistungsstörung sein könnte. Außerdem sind leichte kognitive Schwierigkeiten weniger auffällig als körperliche Symptome.

Besteht allerdings der Verdacht, an einer kognitiven Störung zu leiden, kann der Neurologe bei der Diagnosestellung helfen und die Leistungsfähigkeit mittels standardisierter Testverfahren beurteilen. Dabei werden verschiedene Leistungskomponenten wie Sprache, Flexibilität im Denken, Aufmerksamkeit oder Problemlösefähigkeit untersucht und etwaige Einschränkungen für den Alltag der Betroffenen klar benannt. Standardisierte Fragebögen und strukturierte Interviews ergänzen die Diagnosefindung und helfen, kognitive Störungen von anderen Krankheitsbilden wie Depressionen oder Fatigue abzugrenzen.

Was kann man aktiv dagegen tun?

Zunächst einmal: Kognitive Einschränkungen im Rahmen der MS haben nichts mit Intelligenzminderung zu tun und sind auch nicht mit Erkrankungen wie Alzheimer oder psychischen Erkrankungen zu vergleichen. Sind sie diagnostiziert, können ein gezieltes Gehirntraining und Strategien für den Umgang mit Beeinträchtigungen im Alltag bei der Bewältigung helfen. Dabei geht es sowohl um die Wiederherstellung als auch um die Kompensierung von Funktionen.

Förderung der Konzentration

Die folgenden Maßnahmen können für die Konzentrationsförderung hilfreich sein:

  • Übungen (wie zum Beispiel Konzentrationsspiele, alleine oder auch in der Gruppe);
  • kurzer Tagschlaf (10 bis 30 Minuten);
  • Entspannungsverfahren (wie zum Beispiel Autogenes Training, Meditation, Yoga, Progressive Muskelentspannung);
  • moderater Ausdauersport, der sich auf die Stimmung und damit auch auf die Konzentration positiv auswirkt;
  • ein ausgeglichener Blutzuckerspiegel (der sich positiv auswirkt, während ein sehr niedriger Blutzuckerspiegel die Konzentration erschwert);
  • Nahrung, die den Bedarf an Omega-3-Fettsäuren und Vitaminen (vor allem an Vitamin B) deckt.

Tipps für den Alltag

Die folgenden Tipps können helfen, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung im Alltag mit MS zu stärken:

  • Schreiben Sie Listen für Dinge, die zu erledigen sind (wie Einkaufslisten usw.) und notieren Sie sich Termine im Kalender. Führen Sie ein Tagebuch.
  • Gespräche sollten an ruhigen Orten stattfinden, um Ablenkungen zu vermeiden. Auch bei der Arbeit ist eine ruhige Atmosphäre für Menschen mit MS sinnvoll.
  • Wiederholen Sie Informationen stets und schreiben Sie wichtige Punkte auf.
  • Entwickeln Sie Routinen, wie im vorher beschriebenen Beispiel der Waschmaschine.
  • Trainieren Sie Ihr Gedächtnis täglich mit sogenannten Gehirnjogging-Übungen (zum Beispiel unter http://www.brain-fit.com/index.html).
  • Vermeiden Sie Stress und Ermüdung, da diese Konzentrations- und Gedächtnisschwächen nach sich ziehen können.

Die unergründlichen Wege der MS

Neben der Befürchtung zu erblinden sowie unweigerlich im Rollstuhl zu landen, ist eine große Angst von Betroffenen, dass das Gedächtnis nicht mehr so funktioniert wie gewohnt.
Dies scheint all das zu prophezeien, was sowieso Angst macht, wenn man chronisch krank ist, nämlich in Abhängigkeit zu geraten.
Kein MS-ler kann sich die Symptome aussuchen, sondern man ist ihnen recht machtlos ausgeliefert. Treten sie als erkennbarer Schub auf, kann man sie vielleicht mit der Kortison-Stoßtherapie einigermaßen in den Griff bekommen oder sie verschwinden sogar ganz. Aber je fortschreitender die MS ist (oder bei der progredienten Verlaufsform), können sich diese Symptome allerdings auch zunächst unbemerkt einschleichen.
Man kann zwar spezielle Trainingsmethoden absolvieren, aber wenn es uns erwischt, dann ist es für alle Beteiligten ein herber Schlag. Ein weiterer Schlag auf dem MS-Weg. Es scheint so ungerecht zu sein, aber wir müssen uns diesem Symptom ebenso stellen wie allen anderen auch und dafür sorgen, dass unsere Lebensqualität und die unserer Angehörigen möglichst wenig beeinträchtigt wird. Das ist ein immerwährendes, sehr schwieriges Unterfangen, von dem jeder MS-ler wirklich ein Lied singen kann. Aber wenn wir nicht aufgeben wollen, bleibt uns tatsächlich nichts anderes übrig, als die Symptome anzunehmen, ihnen die Stirn zu bieten und sie möglichst gut in unseren Alltag zu integrieren.

Das wünsche ich Ihnen sehr! Und ebenso wünsche ich Ihnen, dass Sie sich nicht schämen, wenn sie solche Gedächtnisprobleme bei sich wahrnehmen – suchen Sie einen Arzt auf und besprechen Sie Ihre Probleme mit Ihren Angehörigen, damit diese Sie entsprechend unterstützen können.

 Herzlichst
Heike Führ

Wenn Sie mehr zu diesem Thema erfahren möchten, können Sie sich gerne auf meinem Blog www.multiple-arts.com umschauen oder natürlich auch mein Buch zu dieser Thematik lesen: Gedächtnis-Störungen bei MS: Kognitive Leistungsstörungen.