MS im Alter: Immungesundheit und Lebensqualität erhalten
Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 03/2024
Wussten Sie, dass das Immunsystem nicht von Geburt an voll ausgebildet ist? Neben einer angeborenen Abwehreinheit (der unspezifischen Immunabwehr, die gegen Eindringlinge und Schadstoffe wie Bakterien oder Viren vorgeht) entwickelt sich bis etwa zum 10. Lebensjahr das Kernstück der zweiten Einheit, die spezifische Immunabwehr. Sie richtet sich gegen Krankheitserreger oder Fremdkörper, mit denen der Körper schon einmal Kontakt hatte, und aktiviert gezielte Abwehrmechanismen. Zusammen ergibt dies ein sehr effektives System, das lebenslang lernfähig bleibt, auch wenn es sich Alterungsprozessen unterzieht, die oft die Symptome der MS überlagern.
MS und Alter
Fragen Sie sich manchmal auch, ob so manche Symptome vom zunehmenden Alter oder von der MS kommen? Ich finde es sehr oft schwierig, das auseinanderzuhalten. Jeder Mensch, der das Glück hat, älter zu werden, spürt deutlich, dass manche Dinge, die einem früher ganz einfach von der Hand gingen, nun vielleicht nicht mehr ganz so leichtfallen. Irgendwann brauchen wir eine Brille oder ein Hörgerät und vielleicht auch (unabhängig von der MS) einen Stock zur Unterstützung beim Laufen. Und wenn wir aufgrund der MS schon früher als gleichaltrige Gesunde Hilfsmittel (wie einen Rollator, Rollstuhl oder Gehstock) benötigen, merken wir im Vergleich ganz klar, dass bei uns etwas anders ist. Ich merke z. B. in vielen Situationen, dass meine 85-jährige Mama deutlich fitter ist als ich – und das gibt mir natürlich zu denken. So wie ich mich für sie freue, so spüre ich auch, dass die MS merkbar da ist und auch meine Lebensqualität einschränkt.
Es hilft dann nicht, wenn mir jemand sagt: „Ja, müde bin ich auch“, „Mir ist auch öfters schwindelig“ oder „Älter werden wir alle“. Diese Menschen wissen nicht, wie sich MS tatsächlich anfühlen kann –solche Kommentare empfinde ich deshalb auch eher als verletzend, auch wenn sie vielleicht nicht so gemeint waren. Denn nichts ist mit MS so, wie es gleichaltrige Gesunde erleben.
Das Immun-Alter: Was ändert sich, wenn man älter wird?
Unser Immunsystem altert. So kann es etwa ab dem 60. Lebensjahr aufgrund einer nachlassenden Leistungsfähigkeit zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infekte kommen. Außerdem nehmen akute Infektionskrankheiten bei älteren Menschen oft einen schwereren Verlauf als in jungen Jahren (z. B. bei Grippe). Ein geschwächtes Immunsystem macht Ältere anfällig für Erkrankungen von außen – und innen. Die altersbedingten Veränderungen der Abwehrkomponenten nennt man auch Immunoseneszenz – sie betreffen sowohl das unspezifische als auch das spezifische Immunsystem.
Unser Immunsystem bleibt zwar prinzipiell bis ins hohe Alter lernfähig, der Aufwand, um unbekannte Erreger zu bekämpfen, wird aber höher. Gleichzeitig funktioniert die Speicherung neuer Informationen weniger zuverlässig. Auch das trägt dazu bei, dass wir im Alter ein schwächeres Immunsystem haben.
Dadurch kann es auch zu Fehlregulationen kommen, die den Körper anfälliger für chronische Erkrankungen machen. So werden etwa mehr entzündungsfördernde Substanzen gebildet, die eine altersbedingte „Dauerentzündung“ (auch Inflammaging oder Entzündungsaltern) auslösen können, die eine Entwicklung von chronischen Alterserkrankungen wie Alzheimer, Osteoporose oder Diabetes fördern. Mit fortschreitender Immunalterung können auch körpereigene Antigene verstärkt als fremd missdeutet werden – d. h. unser Immensystem erkennt praktisch die eigene „Familie“ nicht mehr. (Zusätzliche) Autoimmunerkrankungen können die Folge sein.
MS im Alter
Alterungsprozesse können die Wirksamkeit und Sicherheit von krankheitsmodifizierenden Medikamenten beeinflussen, indem sie Nebenwirkungen häufiger in Erscheinung treten lassen. Müssen dann zunehmend Begleiterkrankungen behandelt werden, kommt es auch rascher zur Multimedikation oder Polypharmazie (also der gleichzeitigen und dauerhaften Einnahme von mindestens fünf verschiedenen Arzneimitteln) mit steigendem Risiko für Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und unerwünschten Ereignissen.
Zum Verlauf einer MS ohne Behandlung ist bekannt, dass je länger eine MS besteht, Schübe oder Veränderungen im MRT zwar abnehmen, der Gesundheitszustand sich aber trotzdem verschlechtern kann, weil die Fähigkeit zur Erholung von den Folgen eines Schubs abnimmt.
Während die meisten MS-Diagnosen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren für mehr Frauen als Männer erfolgen, erkranken einige auch erst nach 50 („late onset“) – im Übrigen sind das mehr Männer als Frauen. Hier zeigt sich dann auch oft eine primär progrediente Form der MS.
MS oder das Alter?
Wir Menschen mit MS sollten sehr genau hinschauen und uns und unseren Körper reflektieren. Nur so kann man mögliche MS-bedingte Beschwerden im Alter von anderen rein altersbedingten Einschränkungen abgrenzen.
Altersbedingte Erkrankungen können eine MS-Symptomatik auch verstärken. Denn im Alter kommt es oft zu einer Abnahme der Kraft und der Ausdauer oder zu einer Zunahme von Behinderungen im Alltag – und somit zu einer Einschränkung der Teilhabe am Alltagsleben. Wenn man bereits eine MS hat, kann sich das gegenseitig bedingen und auch stören. Es gilt deshalb immer: Man muss die Symptome und Therapien gut abwägen und notfalls mithilfe von Blutuntersuchungen oder einem MRT abklären. Manchmal verliert die MS im Alter über 60 aber auch an Kraft. Dann werden Schübe seltener, im MRT zeigen sich seltener aktive Herde.
Lebensqualität erhalten
Jeder Mensch, ob gesund oder chronisch krank, sollte im Laufe seines Lebens daran arbeiten, sich eine möglichst gute und hohe Lebensqualität zu erhalten. Denn Studien zeigen auch, dass die biologische Uhr nicht unbedingt dem Kalender folgt und eine Widerstandsfähigkeit des Immunsystems (die sogenannte Immunresilienz) individuell ist und von Messgrößen (wie der bestimmten Mindestmenge an CD4+-Zellen und einem relativen Überschuss an CD8+-Zellen im Vergleich dazu oder bestimmte Aktivitätsmuster von Genen und der von ihnen produzierten Proteine) abhängt. Auch der Lebensstil kann viel dazu beitragen, die biologische Uhr „zurückzustellen“ und das Immunsystem zu stärken. Ausreichender Schlaf, eine ausgewogene Ernährung, Bewegung und die Vermeidung von Stress etwa stärken das darmeigene Immunsystem. Auch das Erlernen und Ausüben neuer Dinge und Fähigkeiten (z. B. Reisen, Kreatives oder Sprachen) kann die Immungesundheit nachweislich stärken.
Wenn man mit schweren Beeinträchtigungen leben muss, ist das natürlich deutlich schwieriger, als wenn man einen milden MS-Verlauf hat. Trotzdem ist es auch dann wichtig, eine liebevolle Selbstbestimmtheit zu leben, in der die Achtung vor sich selbst und seinen Angehörigen nicht zu kurz kommt. Wie ich schon so oft in meinen Artikeln und Büchern beschrieben habe, hängt die individuelle Lebensqualität auch immer von der inneren Einstellung ab.
Es ist, wie es ist!
Das ist ein Satz, den ich mir als Mantra vorsage. Denn wenn wir uns, so wie wir sind, annehmen, dann legen wir den Blickwinkel nicht mehr nur auf die Defizite, sondern erlangen die innere Freiheit, die Perspektive zu verändern und mehr das Schöne und Gute in unserem Leben wahrzunehmen.
Ein Beispiel aus meinem Leben: Ich habe drei wundervolle Enkel und bin eine begeisterte Omi. Ich kenne und akzeptiere meine MS und meine Grenzen. Ich sehe meine Enkel oft, und sie dürfen bei mir auch übernachten. Aber: Meine Kinder und ich wissen genau, dass meine Kräfte aufgrund der MS nur begrenzt sind und ich nicht stunden- und schon gar nicht tagelang auf meine Enkel aufpassen kann. Das ist ein Fakt, den ich zwar „doof“ finde, aber wenn ich es so hinnehme (= „Es ist, wie es ist!“), dann sehe ich wunderbare Möglichkeiten: Ich kann meine Enkel sehen, ich habe die Kraft (zumindest kurzfristig), diese entzückenden Menschenwesen in den Arm zu nehmen, mit ihnen zu kuscheln und zu spielen. Nicht lange, aber ich kann es. Wenn ich das „Aber“ ausklammere und mich auf das Gute, auf das, was ich noch kann, fokussiere, dann sehe ich diese wertvolle Zeit mit meinen Enkeln und versuche meine Defizite nicht in den Fokus rücken zu lassen. Das bedeutet auch, dass wir alle unseren Geist trainieren können, das Positive in unserem Leben wahrzunehmen und wirklich den Blickwinkel zu ändern. Damit rückt das weniger Positive automatisch in den Hintergrund.
Tipps für einen Perspektivwechsel
Üben Sie so oft, wie es möglich ist: Nehmen Sie das Blümchen am Wegesrand wahr, freuen Sie sich, dass sie Mitglied und Teil des MS-Vereins sind und somit Möglichkeiten zum Austausch haben. Freuen Sie sich über Ihre Sinneseindrücke, über jeden Fortschritt, über jedes Lächeln, das Ihnen geschenkt wird, über freundliche Nachbarn oder eine liebevolle Verkäuferin.
Schauen Sie darauf, was Sie noch können, überfordern Sie sich aber nicht! Man kann lernen, seine Defizite möglichst wertfrei anzunehmen und sich komplett darauf einzustellen. Ich weiß z. B., dass ich keine drei Stunden mehr mit meinem Hund Gassigehen kann. Warum sollte ich mir dann einen Wanderweg aussuchen, bei dem ich nur stolpern würde und den ich sowieso nicht schaffen kann? Das würde mich frustrieren. Wenn ich mir eine für mich überschaubare Strecke heraussuche, dann habe ich Erfolgserlebnisse, und auf diese kommt es an.
Machen Sie sich doch einmal eine Liste mit allem, was Ihnen guttut, mit allem, was Sie können und was Ihnen Freude machen könnte. Verinnerlichen Sie sich diese Liste, arbeiten Sie sie in ihrem Tempo ab, ohne Druck – hier ist eindeutig der Weg das Ziel. Sie werden staunen, was Sie alles können und was es an Lebenswertem und Positivem in Ihrem Leben gibt!
Krankheit und Lebensumstände annehmen
Wenn wir unsere Erkrankung annehmen, dann können wir auch mit ihr zusammen in Würde altern. Und wenn man ganz viel Glück hat, „brennt die MS im Alter aus“, so hat es mein Neurologe bezeichnet. Ich habe zum Glück schon lange keinen sichtlichen Entzündungsherd mehr im Kopf (MRT) gehabt. Älterwerden ist so eine Sache, weil wir – egal ob wir 30, 60 oder 80 Jahre alt sind – schwächer werden. Die MS zeigt uns noch dazu Grenzen auf, auf die wir lieber verzichten würden. Aber wir sind doch stark und wahre Kämpfer! Wir bieten unserer MS schon so lange die Stirn – dann können wir auch unserem Immunsystem mal eine klare Anweisung geben. Es ist, wie es ist!
Passen Sie gut auf sich auf, alles Liebe und Gute!
Ihre
Heike Führ