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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Schmerzen bei MS: Wahrnehmung, Akzeptanz und Behandlung

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 01/2021

Schmerzen bei MS kommen sehr viel häufiger vor als bekannt ist und als viele Ärzt*innen das wahrhaben wollen. Zum Glück steigt das Interesse am Thema stetig an, macht es zunehmend „salonfähiger“ und Betroffenen somit etwas leichter, darüber zu sprechen und Hilfe zu erhalten.

Welche Schmerzen gibt es bei MS?

Mehr als die Hälfte der MS-Betroffenen hat im Verlauf der Erkrankung Schmerzen; diese nehmen stetig zu, treten aber häufig ohne direkt erkennbare Ursache auf. Das macht es schwierig, sie Außenstehenden begreiflich zu machen – zumal leider immer noch viele Ärzt*innen der Meinung sind, Multiple Sklerose könne keine Schmerzen „verursachen“! In der Vergangenheit wurden Schmerzen bei MS hinsichtlich ihrer Ausprägung und Häufigkeit in der Regel deshalb gerne unterschätzt. Das ist besonders ärgerlich, weil Schmerzen den Alltag von Betroffenen, ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigen können.

Dabei ist die Vielfalt der Schmerzformen, wie auch die 999 anderen Gesichter/Symptome der MS, sehr groß. Die Wahrnehmung ist ja immer auch eine subjektive, kann individuell sehr variieren und wird in der Stärke von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren bestimmt. Nach Art der Auslösemechanismen lassen sich generell zwei Schmerzphänomene unterscheiden:

Nozizeptive Schmerzen

Sie entstehen gewöhnlich durch Reize der Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) des peripheren Nervensystems und werden im zentralen Nervensystem verarbeitet, ausgewertet und interpretiert. So wird das Gehirn normalerweise vor möglichen Gewebeschädigungen gewarnt. Bei MS sind nozizeptive Schmerzen oft eine spezifische Reaktion auf die körperliche Behinderung (etwa aufgrund einer Schwäche oder falschen Haltung, auch durch falsch angepasste Hilfsmittel) und werden deshalb auch als nicht MS-bedingte Schmerzen bezeichnet. Nozizeptive Schmerzen bei MS können aber auch als unabhängige Begleiterkrankung (im Bereich der Gelenke, des Kopfes oder der Knochen) auftreten und sollten gesondert betrachtet werden.

Neuropathische Schmerzen

Auch als neurogene Schmerzen bekannt, werden sie direkt durch die Unterbrechung oder Veränderung schmerzleitender Nervenfasern oder schmerzverarbeitender Nervenzellen (bei der MS in Rückenmark oder Gehirn) ausgelöst. Durch die Schädigung können die Fasern also gereizt werden und einen Schmerz verursachen, ohne dass ein üblicher schmerzauslösender äußerlicher Reiz vorhanden ist. Neuropathische Schmerzen bestehen nach einer akuten Nervenschädigung oft weiter und können chronisch werden, sie werden als MS-bedingte Schmerzen bezeichnet. Man kann sie weiter unterteilen in folgende Schmerzempfindungen:

  • Dysästhesie (auch Parästhesie) (spontane, unangenehme Empfindungsstörung ohne ersichtlichen Grund, die auch chronisch werden kann);
  • Allodynie (gesteigerte Schmerzempfindung, die durch normalerweise unschädliche Reize hervorgerufen wird, etwa durch eine leichte Berührung der Haut);
  • Hyperpathie/Hyperalgesie (lang andauernde oder übermäßige Schmerzempfindlichkeit gegenüber allen örtlichen Reizen mit erhöhter/herabgesetzter Reizschwelle).

Zum Teil treten diese Schmerzen paroxysmal (anfallsartig) plötzlich (spontan oder durch Bewegungsveränderungen) auf und verschwinden nach kurzer Zeit wieder. Dazu gehört etwa die MS-bedingte (auch Sekundäre) Trigeminusneuralgie. Dabei kommt es zu Sekunden oder Minuten andauernden einschießenden, heftig stechenden oder als sengend beschriebenen Schmerzen in einer oder beiden Gesichtshälften. Der Trigeminus ist einer der 12 Hirnnerven, dessen Ursprung im Hirnstamm liegt; meist ist der zweite oder dritte Hauptast des Nervs betroffen. MS-Entzündungsherde sind in dieser Region sehr häufig, Betroffene berichten dabei von Schmerzen im Bereich des Ober- oder Unterkiefers, an Lippen, Nase oder der Stirn. Zwischen den einzelnen Attacken ruht der Schmerz.

Bei paroxysmalen Extremitätenschmerzen kann der Schmerz oft unglaublich heftig an allen möglichen Körperstellen „wie ein Pfeil“ einschießen und in diesem Moment geradezu „lähmen“: Durch den plötzlichen und unerwarteten Schmerz in Arm oder Bein kann man auch das Gleichgewicht verlieren und stürzen.

Auch das sogenannte Lhermitte-Zeichen (ein kurzzeitiges, elektrisierendes oder rieselndes Gefühl, das sich beim Beugen oder Strecken des Nackens von dort aus in andere Bereiche des Körpers ausbreitet) gehört dazu. Es entsteht durch die Dehnung eines Rückenmarkherdes.

Subakute Schmerzen treten relativ plötzlich auf und bestehen über etwas längere Zeiträume. Beispielsweise führt eine Optikusneuritis (Sehnerv-Entzündung) auf der entsprechenden Seite häufig zu Schmerzen hinter dem Augapfel – vor allem, wenn das Auge bewegt wird. Der Schmerz selbst klingt meist schneller ab als die Entzündung.

Neuropathische Schmerzen können aber auch über eine sehr lange Zeit (länger als 12 Wochen) anhalten oder immer wiederkehren; sie werden chronisch und können sich dann auch zu einem eigenständigen Krankheitsbild (dem chronischen Schmerzsyndrom) ausweiten. Brennende, ziehende oder pochende Missempfindungen etwa in Füßen oder Beinen oder ein Enge- oder Einschnürungsgefühl verstärken sich des Nachts, bei hohen Temperaturen und Wetterumschwüngen oder nach körperlicher Belastung. Ebenfalls scheinen chronische Rücken- und/oder Muskelschmerzen (besonders in den Beinen) typisch zu sein, die infolge übermäßig starker Anspannungen der Muskulatur (tonische Krämpfe infolge der Spastik) und daraus folgenden Fehlbelastungen entstehen können.

Zu nennen wären schließlich auch noch Schmerzen, die durch zur Therapie eingesetzte Medikamente entstehen (Kortison kann beispielsweise für Magenschmerzen verantwortlich sein oder die Interferone für grippeähnliche Symptome).

Zum Teil werden die Schmerzen also direkt durch die MS verursacht, zum Teil werden sie durch andere Symptome der MS, Medikamente oder auch durch falsch angepasste Hilfsmittel ausgelöst.

Schmerzen wahrnehmen

Zunächst ist es wichtig, die Schmerzen bewusst wahrzunehmen. Missachtet und unbehandelt besteht nämlich die Gefahr, dass sich der Schmerz verstetigt und das Schmerzgedächtnis sich vertieft. Halten Schmerzen an, können sie auch Müdigkeit oder Depressionen auslösen.
Da die Unterscheidung in nozizeptive und neuropathische Schmerzen nicht ganz einfach ist, ist es wichtig, die Schmerzen detailliert beschreiben zu können. Behandelnde Ärzt*innen/Therapeut*innen erhalten dadurch wertvolle Anhaltspunkte und können individuell geeignete Therapieformen erarbeiten. Denn beide Schmerzarten werden unterschiedlich behandelt; was für die eine Form hilft, kann für die andere Form wirkungslos sein.

Schreiben Sie also ausführlich auf (oder sprechen dies auf Band),

  • wie Sie Ihre Schmerzen empfinden,
  • wo, wann und wie lange diese auftreten und
  • wodurch sich der Schmerz verschlimmert oder abklingt.

So kann auch ein kleines Schmerz-Tagebuch entstehen, das behandelnden Ärzt*innen eine hilfreiche Unterstützung bietet.

Was kann man gegen die Schmerzen tun?

Es gibt verschiedene wirksame Medikamente und Therapien, die Sie bei Schmerzen in Anspruch nehmen können. Ihr behandelnder Neurologe/ihre behandelnde Neurologin wird dazu zunächst die Art und die Ursache/n der Schmerzen klären und versuchen, diese aufgrund Ihres Befundes gezielt zu behandeln. Da vor allem chronische Schmerzen oft diffus sind und neben der körperlichen Komponente auch seelische und soziale Einflüsse eine Rolle spielen können, hat sich bei der oft komplexen Therapie eine Kombination aus verschiedenen Behandlungsmethoden im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes bewährt. Neben Medikamenten/Arzneiwirkstoffen können so z. B. auch Physiotherapie, Entspannungsmethoden, Verhaltens- oder Psychotherapien oder chirurgische Eingriffe Linderung verschaffen.

Medikamente/Arzneiwirkstoffe

Bei neuropathischen Schmerzen werden z. B. Antikonvulsiva (wie Carbamazepin, Gabapentin und Pregabalin), Antidepressiva (Duloxetin und Amitriptylin), Steroide (Prednisolon) sowie Opioide (Codein und Morphin) verschrieben. Darüber hinaus wird die Gabe von Antispastika (Baclofen, Tizanidin) zur Reduktion schmerzhafter Krämpfe empfohlen. Sogenannte nichtsteroidale Antiphlogistika wie Paracetamol, Acetylsalicylsäure und Ibuprofen zeigen hier kaum Wirksamkeit. Es ist zu beachten, dass diese Medikamente auch Schmerzen als Nebenwirkungen haben können.
Darüber hinaus können bei MS-bedingten Schmerzen, die mit herkömmlichen Arzneimitteln nicht therapierbar sind, Cannabinoide (also THC-haltige Mittel wie Sativex) verabreicht werden.

Alternativ dazu gibt es noch das CBD-Öl (Hanf-Öl ohne THC), über das ich hier im Blickpunkt ja bereits berichtet habe. Ich kann auch jetzt nur wieder betonen, wie sehr mir das CBD auch gegen meine Schmerzen hilft. Ich hatte häufig mit diesen einschießenden Schmerzen zu tun – nach gut drei Jahren regelmäßiger Einnahme des CBD-Öls sind sie verschwunden. Gerne können Sie mich diesbezüglich auch kontaktieren oder auf meiner Homepage unter der Rubrik „CBD“ meine Erfahrungsberichte nachlesen.

Physische Faktoren

Zu den nicht-invasiven Behandlungsmethoden zählen der Einsatz von Wärme, Kälte, Akupunktur oder -pressur, Physiotherapie, spezielle Behandlungsmethoden (wie etwa die Schmerztherapie nach Liebscher & Bracht, die Osteopressur mit Dehnungen und einer entzündungshemmenden Ernährung kombiniert), Massagen, Yoga, Tai Chi, oder die Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) können hier gute Erfolge erzielen. Auch Behandlungen mit Capsaicin, dem Scharfstoff aus der Chilischote, (etwa als Schmerzpflaster, direkt auf die schmerzenden Bereiche aufgetragen) versprechen Linderung.

Verhaltensänderungen und Psychotherapie

Zur Schmerzbewältigung stehen hier etwa Möglichkeiten der Hypnose, Ablenkungs- und Entspannungsübungen (autogenes Training oder die progressive Muskelentspannung nach Jacobson) oder Visualisierungen zur Verfügung. Auch eine eigenständige Psychotherapie kann helfen, Schmerzen zu reduzieren.

Chirurgische Eingriffe

Diese (etwa die Jannetta-OP) kommen vor allem bei der Trigeminusneuralgie zum Einsatz, wenn andere Verfahren nicht wirksam sind. Spastische Krämpfe und Schmerzen können etwa mittels Medikamentenpumpen gelindert werden.

Ich wünsche Ihnen den Mut, sich Ihren Schmerzen zu stellen und dies Ihren behandelnden Ärzt*innen gegenüber auch selbstsicher zu vertreten. Lassen Sie sich nicht abwimmeln und fragen Sie immer wieder nach. Ich finde, wir müssen mit unserer MS schon so viel aushalten und managen, da brauchen wir nicht auch noch Schmerzen auszuhalten!

Alles Gute für Sie und herzliche Grüße

Heike Führ

PS: Indem Sie dies hier aufmerksam lesen, haben Sie schon den ersten wichtigen Schritt hinaus aus der Einsamkeit getan, denn Sie befassen sich damit!