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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Sexualität, Kinderwunsch, Schwangerschaft und MS

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 02/2023

Was sollten Menschen, die von MS betroffen sind und gerne Sex und eigene Kinder haben möchten, beachten? Mir scheint das eine Art Tabuthema zu sein, über das nach wie vor eher verhalten in der Öffentlichkeit gesprochen wird – Grund genug für mich, dieses Thema zu beleuchten! Und auch wenn Sie keinen Kinderwunsch haben, könnte dieser Artikel interessant für Sie sein, da ich auch kurz von den sexuellen Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit MS auftreten können, berichten möchte.

Sexualität

Fangen wir vorne an: Auch Menschen mit MS und ihre Partner*innen möchten Sex haben, haben Lustgefühle und sehnen sich nach Zärtlichkeit. Durch die MS kann es aber zu sexuellen Störungen kommen, die das nicht immer einfach machen. Erektile Dysfunktion, vermindertes sexuelles Verlangen oder Schmerzen während des Geschlechtsaktes sind einige davon, betreffen tatsächlich sehr viele und können verschiedene Ursachen haben. Oft gehen sie auf neurologische Veränderungen oder typische körperliche MS-Dysfunktionen und kognitive Leistungsbeeinträchtigungen zurück. Natürlich können dabei ebenso MS-bedingte Veränderungen der Körperwahrnehmung eine große Rolle spielen. Dies wiederum bedingt oftmals, dass sich die Einstellung zum eigenen Körper verändert.

Auch seelische und soziale Schwierigkeiten können Ursachen solcher Störungen sein – das Problem besteht insofern „unsichtbar“ und sozusagen doppelt: Zum einen ist es für die Betroffenen nicht schön, auch auf diesem Gebiet nicht mehr „voll funktionstüchtig“ zu sein, Schmerzen aushalten zu müssen oder eventuell auch gar keine Lust mehr zu empfinden. Dann kommt hier noch der Partner/die Partnerin hinzu, der/die damit ja auch umgehen können muss und sich im besten Fall darauf einstellt (und man trotzdem eine zufriedene und befriedigende Partnerschaft führen und eine schöne Sexualität leben kann) – aber belastend ist es allemal. Betroffene fühlen sich oft minderwertig, nicht mehr attraktiv oder begehrenswert. Auch wenn man es nicht „sieht“, geht es unter die Haut und tut weh.
Weitere MS-Symptome wie Blasenschwäche, Fatigue u. v. m. können das sexuelle Leben beeinträchtigen oder gar verhindern. Das Nervensystem spielt einfach eine wichtige Rolle bei der Sexualität. Erotische Sinneseindrücke (z. B. Berührungen, visuelle Reize und Gerüche) werden an das Gehirn übermittelt und dort in Signale an die Geschlechtsorgane umgesetzt. Wie Sie damit umgehen können, habe ich auf meiner Webseite, in meinem neuen Buch sowie auch schon in einem BP-Artikel in der Ausgabe 4/2019 thematisiert.

Kinderwunsch

Voraussetzungen

Der nächste Punkt: Auch Menschen mit MS und ihre Partner*innen möchten gemeinsame Kinder haben und sie aufwachsen sehen. Und das ist genauso möglich wie bei allen anderen. So ist die Empfängnisfähigkeit bei Frauen durch die MS grundsätzlich ebenso wenig eingeschränkt wie die Zeugungsfähigkeit bei Männern mit MS. Paare müssen sich also zunächst genauso Gedanken über die Verhütung machen wie alle anderen Paare auch. Hier sind mehr oder weniger alle handelsüblichen Verhütungsmethoden möglich, zu beachten ist allerdings, dass manche MS-Medikamente einen Einfluss auf die Körpertemperatur haben können – Methoden, die auf einer Messung der Körpertemperatur beruhen (Basaltemperaturmessung), sind dann also nicht zu empfehlen. Auch bestimmte Hormonpräparate können bei Patientinnen mit eingeschränkter Mobilität zu einem höheren Thromboserisiko führen.

Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit im üblichen Sinn. Vererbt wird eine bestimmte Konstellation von Gewebemerkmalen, die Einfluss auf die Häufigkeit des Auftretens einer MS haben. Es gibt Gewebemerkmale, die das Auftreten einer MS begünstigen und solche, die es unwahrscheinlicher machen. Man spricht auch von einer gewissen „Disposition“. Das Risiko für das ungeborene Kind, an einer MS zu erkranken, lässt sich für den Einzelfall natürlich nicht angeben. Studien zufolge ist es jedoch so gering, dass nichts dafür spricht, keine Kinder zu bekommen. Dies gilt insbesondere für Frauen mit MS. Die Datenlage bei von MS betroffenen Männern ist dagegen bisher eher spärlich und weist vereinzelt auf eine Unfruchtbarkeit, auf fruchtschädigende Eigenschaften durch die Einnahme bestimmter immunmodulierender Medikamente oder ein höheres MS-Risiko für das Kind mit zunehmendem Alter des Vaters hin.

Noch im 20. Jh. wurde von einer Schwangerschaft bei MS direkt abgeraten oder bei bereits bestehender Schwangerschaft nur aufgrund der Krankheit zu einem Abbruch geraten. Heute wissen wir, dass Frauen mit MS beinahe genauso häufig ein gesundes Kind zur Welt bringen wie Frauen ohne MS, und auch der Langzeitverlauf der MS durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen und das Alter der Frau dabei nicht negativ beeinflusst wird.

Entscheidet sich eine Patientin also aktiv und bewusst für ein Kind, dann ist es in jedem Fall die Aufgabe der Ärztin/des Arztes, den Wunsch zu unterstützen und so zu beraten und zu begleiten, dass eventuelle Ängste und Zweifel abgebaut werden können. Gerade bei einer bereits bestehenden, körperlich einschränkenden Behinderung sollten Auswirkungen auf die Art der Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt immer mitgedacht und deshalb gut geplant werden.

Die Planung

Nicht jeder Zeitpunkt ist günstig für eine Schwangerschaft. Es ist also ratsam, eine geplante Schwangerschaft mit Ihrer Frauenärztin/Ihrem Frauenarzt und Ihrer Neurologin/Ihrem Neurologen zu besprechen. Der letzte Schub sollte bspw. längere Zeit zurückliegen, die Schwangerschaft also für eine stabile Phase im Krankheitsverlauf geplant werden. Frauen mit einer sehr hohen Schubfrequenz sollten zunächst auch lieber abwarten, ob sich diese durch geeignete Medikamente verringern lässt, da sonst die Gefahr eines Schubes in der Schwangerschaft zu groß ist.

Da einige Substanzen, die in der MS-Behandlung eingesetzt werden, das Ungeborene schädigen können, wird eine Unterbrechung der Therapie meist schon drei bis sechs Monate vor Beginn einer Schwangerschaft, spätestens aber mit Schwangerschaftseintritt, und bei Stillwunsch auch bis zu sechs Monate nach der Geburt, empfohlen. Kommt es während der Medikamenteneinnahme zu einer ungeplanten Schwangerschaft, ist dies normalerweise kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch; eine intensivierte Ultraschallvorsorge (13. und 20. Schwangerschaftswoche) ist in solchen Fällen jedoch ratsam.

Zu berücksichtigen bei der Planung sind eventuell auch eine mangelnde Mobilität oder andere Beeinträchtigungen eines Partners. Das heißt, dass man sich vor der Schwangerschaft mit den Veränderungen, die das Leben mit einem Kind mit sich bringen wird, auseinandersetzen sollte. Dass es einfach wunderschön ist, ein Kind aufwachsen zu sehen, ist selbsterklärend, und doch erfordert es auch viel zusätzliche Kraft und Energie im Alltag.

Ich halte es, gerade mit einer nicht gut kalkulierbaren Erkrankung wie MS, für sinnvoll, sich frühzeitig ein enges Netzwerk aus Helfern aufzubauen, die während der Schwangerschaft und danach begleiten und unterstützen können (etwa Familienangehörige, Freunde und Nachbarn, eine Hebamme oder eine Familienhelferin).

Schwangerschaft

Einfluss auf die MS

Tatsächlich beeinflussen sich Schwangerschaft und MS gegenseitig – in keinem Fall aber stellt die Schwangerschaft eine Gefahr für MS-Patientinnen dar. Grundsätzlich ist es so, dass die Schwangerschaft, insbesondere im 2. und 3. Drittel, zu einer erhöhten Toleranz des Immunsystems führt. In Studien hat sich gezeigt, dass von MS betroffene Frauen mit mehreren Geburten eine geringere Behinderung hatten und einen gewissen Behinderungsgrad sogar später erreichten. Natürliche, immunsuppressive Faktoren im Blut der Frau werden wirksam, und das „körpereigene Kortison“ (Kortisol) steigt an. Das bedeutet, dass schwangere Frauen in der Regel vor MS-Schüben und entzündlicher Aktivität geschützt sind (sogenannter protektiver Effekt).

Dieser Schutz sinkt nach der Entbindung und der damit verbundenen hormonellen Umstellung wieder, sodass Frauen in den ersten Monaten nach der Entbindung ein statistisch höheres Risiko haben, einen Schub zu erleiden. In der Summe gleicht sich das verminderte Risiko während der Schwangerschaft mit dem erhöhten Risiko nach der Entbindung aber aus, sodass unterm Strich kein erhöhtes Schubrisiko durch eine Schwangerschaft hervorgerufen wird und sechs Monate nach der Entbindung wieder das „normale“ Schubrisiko erreicht wird.

Während der Schwangerschaft

Für MS-betroffene Schwangere gelten dieselben Empfehlungen wie für alle zukünftigen Mütter, also etwa die Einnahme von Folsäure und Vitamin D bereits bei Schwangerschaftswunsch, eine gesunde, ausgewogene Ernährung ohne Alkohol und Nikotin sowie eine regelmäßige körperliche Aktivität, die auch das Risiko für MS-bedingte Symptome (z. B. Fatigue) verringern können.
Die beste Herangehensweise ist m. E., die Situation auf sich zukommen zu lassen und auch – wenn man das wünscht – zu planen, sein Kind (voll) zu stillen.

Geburt und Stillen

In Studien hat sich gezeigt, dass Neugeborene MS-betroffener Mütter im Vergleich zur Normalbevölkerung ein etwas niedrigeres Geburtsgewicht aufweisen können, ein Unterschied im Auftreten von Komplikationen im Rahmen von Entbindungen hat sich jedoch nicht nachweisen lassen. Entsprechend kann die Entbindungsform frei gewählt werden – es sei denn, bestimmte Einschränkungen (etwa Fatigue oder eine schwache Beckenmuskulatur) könnten zu einer Verzögerung der Geburt führen.

Planen Sie für den Geburtstermin deshalb gut im Voraus und informieren Sie Ärzt*in und Hebamme, die Sie während der Geburt betreuen werden, über Ihre MS-Erkrankung. Es wird empfohlen, bei Ihrer Frauenärztin/Ihrem Frauenarzt und in der Klinik auch die Kontaktdaten Ihrer Neurologin/Ihres Neurologen zu hinterlegen.

Sobald das Kind auf der Welt ist, wird aufgrund der nachgewiesenen Vorteile für die Gesundheit der Mutter wie auch des Neugeborenen das Stillen für die ersten sechs Monate klar empfohlen. Statistiken zeigen auch, dass das Stillen einen weiteren Schubschutz bieten kann.

Einer Schwangerschaft steht also grundsätzlich nichts im Wege – wichtig ist einfach nur die etwas genauere Planung und die Rücksprache mit den behandelnden Gynäkolog*innen und Neurolog*innen.

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute!

Ihre
Heike Führ

Quellen und weitere Informationen