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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Wenn Wärme belastet: Was hilft beim Uhthoff-Phänomen?

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 02/2020

Das Uhthoff-Phänomen kennen viele MS-Betroffene besonders im Sommer bei heißen Temperaturen, und ich weiß selbst noch, wie ich vor vielen Jahren im Hochsommer völlig entkräftet und auch ängstlich, dass ich einen neuen Schub haben könnte, beim Neurologen saß. Der Satz, der alles auflöste war: „Sie haben das Uhthoff-Phänomen, das ist ein Pseudo-Schub. Sie sind heute der 100. MS-Patient, der mich aufsucht!“ Uff, Erleichterung!

Was ist das Uhthoff-Phänomen?

Als Uhthoff-Phänomen (erstmals beschrieben im Jahr 1890 von dem Augenarzt Wilhelm Uhthoff) wird im engeren Sinn die vorübergehende Beeinträchtigung der Sehschärfe aufgrund einer körperlichen Anstrengung bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen bezeichnet. Es resultiert aus einer Blockierung der Leitfähigkeit des Sehnervs nach einer Erhöhung der Körpertemperatur.

Im weiteren Sinn wird damit auch die vorübergehende Verschlechterung neurologischer MS-Symptome bei einer anderweitigen Erhöhung der Körpertemperatur (z. B. durch Fieber, heiße Bäder oder durch einen Saunabesuch) oder einer erhöhten Umgebungstemperatur (Hitze im Sommer, warme Räume usw.) bezeichnet. Betroffen sind mehr als 80 Prozent der an MS Erkrankten, das Phänomen tritt aber auch bei anderen demyelinisierenden Erkrankungen (wie etwa der akuten disseminierten Enzephalomyelitis, ADEM oder dem Guillain-Barré-Syndrom) auf. Als Ursache wird auch hier eine temperaturbedingte Verschlechterung der Leitfähigkeit demyelinisierter Axone angenommen.

Weil das Uhthoff-Phänomen von einem Erkrankungsschub abgegrenzt werden muss, bleibt es auch heute noch klinisch bedeutsam. Eine Verschlechterung des Zustandes von MS-Betroffenen aufgrund von Hitze oder Anstrengung (also aufgrund physikalischer Zustände) wird auch als Pseudo-Schub bezeichnet.

Symptome und Auswirkungen

Durch das Uhthoff-Phänomen kann es u. a. zu den folgenden Symptomen kommen:

  • Sehstörungen;
  • ein deutliches, kaum beschreibbares Unbehagen, da die körpereigenen Mechanismen der Kühlung erst verzögert oder gar nicht einsetzen;
  • Sensibilitätsstörungen;
  • neurologische Ausfallerscheinungen;
  • Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Fatigue;
  • Konzentrationsstörungen;
  • Übelkeit;
  • Schwindel.

Gerade frisch diagnostizierte MS-Betroffene haben anfangs Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen einem neuen Schub und diesem durch das Uhthoff-Phänomen ausgelösten Pseudo-Schub zu erkennen. Denn wie bei der Fatigue handelt es sich hierbei auch um ein nicht willentlich veränderbares Gefühl. Wenn „Herr Uhthoff“, wie er umgangssprachlich auch genannt wird, zuschlägt, ist dies mit Worten kaum zu beschreiben, denn es ist sehr unangenehm und fühlt sich anders an, als nur zu schwitzen oder erhitzt zu sein. Alles wird bleischwer, man fühlt sich abgrundtief erschöpft und ausgelaugt, kann sich kaum noch bewegen und hat keine Kraft mehr, um etwa ein Glas Wasser zu halten. Es ist, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.

Charakteristisch für das Uhthoff-Phänomen ist die Verschlechterung neurologischer Symptome. Viele Menschen mit MS sehen plötzlich verschwommen oder wie durch einen Nebel. Auch die Farbwahrnehmung kann verändert sein. Andere erleben, dass sie verstärkt mit Fatigue, kognitiven Störungen, Tremor, Gefühlsstörungen oder Spastik zu tun haben, wenn es warm wird oder sie sich körperlich anstrengen. Im „Normalfall“ können also durch die Temperaturerhöhung alte und bekannte Symptome verstärkt auftreten, im Extremfall kann dies zu neuen, vorübergehenden kompletten Lähmungserscheinungen führen.

Diese Symptome bilden sich immer wieder zurück – spätestens nach völliger Abkühlung. Allerdings beruhigt das an einem heißen Sommertag mit Temperaturen bis 40 °C nicht wirklich, und das so erschöpfende innerliche Gefühl von drohender Ohnmacht ist eine zusätzliche Belastung und führt dazu, dass viele MS-Betroffene den Sommer regelrecht fürchten. Erschwerend kommt dazu, dass Außenstehende für das Phänomen und seine Erscheinungsformen oftmals nicht das nötige Verständnis aufbringen – auch, weil die Symptome „unsichtbar“ bleiben. Betroffenen wird so das Gefühl gegeben, sie seien besonders empfindlich, jammerten unnötig oder bildeten sich das Ganze nur ein.

Ursachen

Bei einem Anstieg der Körpertemperatur kann generell beobachtet werden, dass die Nervenimpulse verlangsamt sind. Eingeschränkte körperliche Aktivitäten, vermindertes Reaktionsvermögen oder eine herabgesetzte Konzentrationsfähigkeit sind die Folge. Die Leitfähigkeit bereits vorgeschädigter Nerven wird durch die erhöhte Temperatur dabei weiter verlangsamt, und es kommt zu diesen plötzlichen Ausfallerscheinungen und starken Ausprägungen der verschiedenen MS-Symptome. So haben Studien an peripheren Nerven z. B. gezeigt, dass schon eine Erhöhung der Körpertemperatur um 0,5 °C die Reizübertragung in demyelinisierten Nervenfasern verlangsamen oder blockieren kann. Hier gilt auch: Je stärker die Demyelinisierung fortgeschritten ist, desto temperaturempfindlicher werden die Nervenfasern.

Was hilft beim Uhthoff-Phänomen?

Der Körper kann sich normalerweise selbst abkühlen, indem der Herzschlag erhöht und die Atmung beschleunigt wird, ähnlich dem Hecheln bei einem Hund. Bei diesem Vorgang wird mehr Blut in die oberen Gewebeschichten befördert, und die Blutgefäße weiten sich. Die Hautporen öffnen sich, und der Körper kann schwitzen, was ebenfalls kühlt. Das ist aber das „normale“ Abkühlen bei Gesunden. Selbst wenn dieser Mechanismus bei MS-Betroffenen prinzipiell funktioniert, haben wir es aber zusätzlich mit den körperlichen Auswirkungen der oben beschriebenen Ursachen zu tun.

Und bei schwül-heißem Wetter ist das Abkühlen deutlich schwieriger: Steigt mit der Temperatur die Luftfeuchtigkeit, hat der Körper Schwierigkeiten zu schwitzen, da die Umgebungsluft schon mit Feuchtigkeit gesättigt ist. Der abkühlende Effekt, wenn der Schweiß verdunstet, wird durch die schon feuchte Luft verhindert.
Eine solche Wettersituation – schwüle Hitze – wird daher von den meisten MS-Betroffenen als sehr beschwerlich empfunden. An solchen Tagen sollte man sich, wenn möglich, eher drinnen und vorzugsweise in klimatisierten Räumen aufhalten. Folgende Tipps können Ihnen vielleicht weiterhin helfen:

Ursachen abklären

Innerhalb der zugrundeliegenden Erkrankung ist in jedem Fall immer zunächst eine Differenzialdiagnose zur Abgrenzung gegen echte Krankheitsschübe notwendig, um die richtigen Behandlungsmaßnahmen ergreifen zu können. Deshalb ist die Klärung der Frage wichtig, bei welchen Anlässen die Beschwerden auftreten.

Auslöser vermeiden

Das beste Mittel gegen das Uhthoff-Phänomen ist zunächst, die Auslöser zu vermeiden: also etwa, kein heißes Vollbad nehmen, eher kühl duschen und auf die Sauna verzichten. Im Sommer hilft es, kühle Plätze aufzusuchen, nicht zur Mittagszeit Aktivitäten zu planen, im abgedunkelten Raum zu bleiben sowie einen Ventilator am Arbeitsplatz (und zu Hause) aufzustellen.

Für Betroffene, die zu Hause sind oder sich ihren Tag frei einteilen können, ist dies natürlich einfacher zu gestalten als für Berufstätige. Von daher sind diese Tipps immer „relativ“, aber man kann sie als Anstoß verstehen, eventuell auch seinen Arbeitsplatz für sich etwas angenehmer zu gestalten.
Allgemein gilt auch, dass eine gute körperliche Konstitution eine gute Voraussetzung dafür ist, mit Hitze besser umgehen zu können. Übergewicht belastet den Körper zusätzlich – ein guter Grund für ein aktives Leben mit MS.

Kühlung von innen

Auch die „klassischen“ Kühlmittel sind mit einzubeziehen: Ein großer Eisbecher oder kalte Früchte kühlen von innen (zumindest für eine gewisse Zeit) ebenso wie gekühlte Getränke (etwa Eistee, Eiskaffee oder Säfte).

Angepasste Kleidung

Die richtige Kleidung oder sogenannte Kühlkleidung kann definitiv Abhilfe schaffen und so die eigene Körpertemperatur drosseln. Ich habe mir vor mehreren Jahren eine Kühlweste zugelegt und wenn ich einen Termin habe, der sich bei Hitze nicht umgehen lässt, trage ich sie und muss sagen, dass sie mir wirklich hilft.

Kühl-Utensilien

Auch kühlende Nacken- und Stirnbänder oder Manschetten, die mit einem speziellen Kühl-Gel gefüllt sind, verschaffen Erleichterung.

Kaltes Wasser

Eine kalte Dusche hilft immer: Wer einen Garten hat, kann sich auch unter die Gartendusche stellen oder sich mit dem Gartenschlauch abspritzen. Auch eine mit kaltem Wasser gefüllte Schüssel oder Wanne, in die man seine Füße stellen kann, lindert umgehend und kann helfen, die Körpertemperatur wieder herunterzufahren.

Im Voraus planen

Planung ist hier, wie auch bei der Fatigue, sehr, sehr wichtig: Sich abends, wenn es abgekühlt hat, schon die Hilfsmittel für den kommenden Tag bereitzulegen oder auch über Nacht zu kühlen, kann den Start in den kommenden heißen Tag erleichtern.

Lernen, mit „seinem“ Phänomen umzugehen

Wärme kann sich also auf das Wiederauftreten früherer Symptome auswirken. Besonders, wenn eine erhöhte Instabilität der betroffenen Nervenleitbahnen im Zentralnervensystem vorliegt. Dies ist dann keine erneute Entzündung! Beispielsweise hatte ich 1994 als ersten Schub eine heftige Sehnerv-Entzündung, bei der das linke Auge erblindet war, was sich aber zum Glück vollständig zurückgebildet hat. Bei großer Hitze, Stress oder einem Infekt flammt diese Störung dann immer wieder auf: Ich bekomme Sehstörungen, das linke Auge schmerzt und ist nicht belastbar (es „wackelt“) und auch andere meiner bekannten oder auch weniger bekannten MS-Symptome machen sich bemerkbar. Immer werde ich kraftlos dabei, habe Probleme, Treppen zu steigen und bekomme eine taube Gesichtshälfte – das ist (m)ein typisches Uhthoff-Phänomen. Zu Beginn meiner Erkrankung hat mich das immer in Angst und Schrecken versetzt, bis mir meine damalige Neurologin erklärte, dass es „nur“ ein Pseudo-Schub sei. Aushalten müssen wir diese Symptome ja trotzdem, denn sie sind real, aber es ist beruhigend zu wissen, dass es kein neuer Schub ist!

Wenn ich dann wirklich und konsequent für Abkühlung sorge (wenn möglich!), dann verschwinden die Symptome auch wieder nach und nach. Trotzdem kann sich ein Pseudo-Schub auch nachhaltig auswirken und die allgemeine Konstitution so schwächen, dass man tagelang von Kraft- und Energielosigkeit betroffen ist. Einige meiner engsten Freunde kennen mich im Sommer mit einem nassen kalten Handtuch um den Hals geschlungen sowie mit meiner Kühlweste und wissen, dass ich DRINGEND Abkühlung brauche. Auch wenn es kein Schub ist, ist dieses Symptom enorm anstrengend und belastend und schwächt mich manchmal trotz Abkühlung noch lange. Es gibt aber auch hier Ausnahmen: Einigen MS-Betroffenen machen sowohl Hitze als auch Sauna oder ein heißes Bad überhaupt nichts aus. Sie können diese Dinge genießen wie Gesunde auch. Ebenso verhält es sich mit der Kälte im Winter: Einige Betroffene lieben es, wenn es kühler wird, andere bekommen Spastiken, Versteifungen, können evtl. noch schlechter laufen und fühlen sich einfach unwohl. DAS sind die 1000 Gesichter der MS!

Kommen Sie gut durch den Sommer!

Herzliche Grüße

Heike Führ

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